Andy Brogan 

Tagungsbericht

Das erste Internationale Steiner-Symposium „The Actuality of Rudolf Steiner: An Interdisciplinary Exploration of Steiner in the 21st Century“ vom 8. bis zum 10 Oktober 2021 war gleichzeitig die erste öffentliche Forschungsveranstaltung des Instituts für Bildung und gesellschaftliche Innovation (IBUGI) im Zusammenhang mit unserem gleichnamigen Hauptforschungsprojekt. An der zweieinhalbtägigen Online-Veranstaltung nahmen durchschnittlich dreißig Interessierte aus der ganzen Welt teil, darunter Forscher aus Deutschland, Dänemark, Spanien, Brasilien, Australien, Neuseeland und den USA. Insgesamt gab es mehr als neunzig Anmeldungen für die Konferenz.

Den Auftakt bildete eine Podiumsdiskussion über die Stellung Steiners in der akademischen Welt, welche von Prof. Dr. Marcelo da Veiga (Deutschland) und Dr. Christian Clement (USA) geführt wurde. Prof. da Veiga, Dr. Clement und andere Mitwirkende und Teilnehmende stellten ihre Gedanken über einige der Barrieren sowohl auf der akademischen als auch auf der anthroposophischen Seite vor. Von besonderem Interesse war der Vorschlag Dr. Johannes Wagemanns (Deutschland), primär von aktuellen akademischen Fragen auszugehen und dann relevante Ideen Steiners aktiv in diese Debatten einzubringen. Es wurde auch über die Bedeutung und die Rolle von auf Steiner fokussierten Veranstaltungen und Publikationen diskutiert, wie beispielsweise dem Internationalen Steiner-Symposium als Plattform für die Etablierung akademischer Verbindungen für zukünftige Projekte. Die Podiumsdiskussion stellte damit nicht nur den Beginn des Symposiums dar, sondern bildete auch die Grundlage für die interaktiven und konstruktiven Dialoge, die sich an die einzelnen Vorträge anschlossen.

Die Vorträge gliederten sich in drei große Themenbereiche: methodische Überlegungen, Bildung und persönliche Entwicklung sowie soziale Fragen.

Dr. Wagemann (Deutschland), Shaunaq Puri (Dänemark) und Dr. Neil Boland (Neuseeland) boten am Freitagabend, Samstagmorgen und in einem vorab aufgezeichneten Beitrag Einblicke in die verschiedenen Möglichkeiten, wie Steiners Werke bzw. anthroposophischen Ideen und Methoden aufschlussreiche Ansätze für etablierte akademische Disziplinen liefern oder einen Gegenpol zu den vorherrschenden akademischen Diskursen bilden könnten.

Im Laufe des Samstags präsentierten Dr. Fiona Campbell (Australien), Andreia de Souza, Talitha Bianchini, Maíra Scarpellini, Kátia Sequiera und Dr. Tanja Stoltz (in Zusammenarbeit, Brasilien) Forschungsarbeiten, welche den Zusammenhang zwischen Kreativität, persönlichem Wachstum und Bildung untersuchen. Die verschiedenen Präsentationen stützten sich auf ausführliche Interviews, kontemplative Praxis und Erfahrungen mit künstlerischen Schaffensprozessen, und untersuchten die persönlichen Auswirkungen dieser Erfahrungen.

Der Sonntag schließlich widmete sich Fragen, die Steiners Werk mit größeren gesellschaftlichen Gruppen in Verbindung bringen, und bot eine breite Palette von Themen, von der Rezeption und dem Wachstum der Waldorfpädagogik in Spanien mit Dr. Patricia Uceda (Spanien) bis hin zur Betrachtung der Verbindungen zwischen indischem Tanz und Eurythmie mit Dr. Stine Puri (Dänemark). Nathaniel Williams (USA) bot uns einen Einblick in die Rolle der ästhetischen Erziehung, und Dr. Martyn Rawson (Taiwan) stellte die Bedeutung der ,Globalectics‘ (Thiong’o, 2014) für das Aufbrechen des bisher stark eurozentrierten Zugangs zur Anthroposophie dar. Zum Abschluss des Wochenendes präsentierte Eva Fürst (Deutschland) vom IBUGI eine Untersuchung der Werke Rudolf Steiners und Rosa Mayreders, und diskutierte inwiefern diese einen anderen Zugang zur Diskussion über die Geschlechteridentität bieten können.

Die Präsentationen selbst stellten nur einen Teil des Symposiums dar. Von großer Bedeutung waren zudem die Gespräche, die vor und zwischen den Präsentationen stattfanden, und welche zur Etablierung neuer Netzwerke und Forschungsmöglichkeiten beitrugen. Das Online-Format ermöglichte nicht nur trans-geographische Verbindungen, der interdisziplinäre Charakter des Symposiums führte darüber hinaus auch zu Gesprächen über akademische Grenzen hinweg.

Der Erfolg des ersten Internationalen Steiner-Symposiums lag genau in dieser Kombination von wissenschaftlichen Vorträgen und der Etablierung akademischer Netzwerke – ein Erfolg, an den das Institut für Bildung und soziale Innovation (IBUGI) im Jahr 2022 gerne anknüpfen möchte. Weitere Informationen über IBUGI, die Präsentationen des Internationalen Steiner Symposiums sowie Einblicke in unsere aktuelle Forschung finden Sie auf unserer Website: www.ibugi.de oder www.ibugi.de/en. Die Präsentationen werden jeden Freitag unter der folgenden Adresse veröffentlicht: www.ibugi.de/outputs.

Marcelo da Veiga 

Forschung zu Rudolf Steiners Werk im IBUGI

Die heutige Menschheit ist mit vielen neuartigen Herausforderungen konfrontiert. Die offensichtlichen, globalen Herausforderungen betreffen den Klimawandel, Umweltkatastrophen sowie das starke soziale Gefälle, welches gewaltige Fluchtbewegungen in die westlichen Staaten ausgelöst hat. Die ökologischen Probleme sind vielfältig und eine sichtbare Folge der ressourcenhungrigen industriellen Wirtschaftspraxis der letzten dreihundert Jahre sowie des konsumistischen Lifestyles, der sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend etabliert hat. Die sozialen Spannungen aufgrund von Kriegen und wirtschaftlichen Zwangslagen sind nicht völlig neu. Was neu ist, ist das weltweite Ausmaß und die Umkehrung der Flucht- und Auswanderungsrichtung verglichen mit dem Beginn der Neuzeit, als die Europäer massenhaft in die sogenannte neue Welt strömten.

Die weniger offensichtlichen, aber deswegen nicht weniger bedeutenden Herausforderungen beziehen sich auf die innere und äußere Lebensgestaltung des Menschen. Sie betreffen die Sinnfindung des spätmodernen Individuums und die Frage, welche Werte ein Mensch persönlich und gesellschaftlich leben will. Die offensichtlichen und die inneren Herausforderungen hängen miteinander zusammen. Sie fordern vom spätmodernen Menschen immer mehr, dass er sein Verhältnis zur Natur neu bewertet und sein Leben als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft selbst ausrichtet. Dazu ist er umso mehr aufgefordert, als er aus der Kakophonie der politischen Meinungskämpfe und dem Glaubwürdigkeitsverlust überkommener gesellschaftlicher Institutionen nur noch schwerlich eine verlässliche und tragfähige Orientierung für sein Leben gewinnen kann. Will er nicht im Strom der Zeit wie ein Stück Holz in einem Fluss treiben oder sich in die offenen Arme von Fundamentalismen werfen, bleibt ihm nur das tägliche zivilgesellschaftliche Engagement sowie die Arbeit am eigenen individuellen Menschsein, um entschlossen aber mit Bescheidenheit nach Orientierung für sein Leben und für den Erhalt einer freiheitlichen Gesellschaft Ausschau zu halten.

Das Institut für Bildung und gesellschaftliche Innovation (IBUGI) setzt mit seiner Arbeit und seiner internen Organisation bei den genannten Fragen an. Als akademisches Institut an der Alanus Hochschule entwickelt es Bildungsimpulse, die sowohl den persönlichen als auch den gesellschaftlichen Wandel anregen sollen. Seine Leitfrage lautet: Wie hängt die innere Entwicklung als individueller Mensch mit der Gestaltung der Gesellschaft und insbesondere von gemeinnützigen Organisationen zusammen? Wandel und Innovation sind letztlich Bewusstseinsfragen. Erst die Änderung des Bewusstseins führt auch zu nachhaltigen Änderungen in der Lebensführung und Gesellschaftsgestaltung. Eine zentrale Rolle für die Lehre und Forschung des IBUGI ist daher die Auseinandersetzung mit modernen Formen der Bewusstseinsentwicklung. Es untersucht hierzu die freiheits- und sozialphilosophischen Impulse im Werk Rudolf Steiners (1861–1925). Steiner hat im letzten Viertel des 19. und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ein umfassendes schriftliches und vor allem auch mündliches Wirken entfaltet, das bislang gesellschaftlich und akademisch nur unzureichend gewürdigt wurde. Es zeugt von einem eigentümlichen Umgang mit Fragen der eigenverantwortlichen Bewusstseinsentwicklung und der solidarischen Gesellschaftsgestaltung. Steiner führt dabei seine Leser und Zuhörer in die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen und ungewohnten philosophischen, spirituellen und gesellschaftlichen Impulsen hinein. Er scheint dabei Zugänge eigener Art zu vergangenen Mythologien und antiken mystischen Strömungen und Lebensformen schaffen zu wollen. Sein Ausgangspunkt ist das positivistisch geprägte philosophische und wissenschaftliche Denken seiner Zeit. In einer Zeit, welche die voreuropäischen altindischen Vedalehren, die buddhistischen Lehren sowie das nichtkirchliche Christentum weitestgehend ignoriert, stellt er in Schriften und Vorträgen deren große kulturgeschichtliche Leistung und Bedeutung heraus. Er beschreibt und veröffentlicht zudem Grundprinzipien meditativer Selbstschulung, die erlauben sollen, persönliche Wege der Bewusstseinsentwicklung und des spirituellen Erlebens zu gehen, die ihm zufolge im autonomen Denken und der Eigenverantwortung des Individuums verankert sind.

Die Sicht auf den innovativen Kern in Steiners Wirken scheint heute aber in vielfacher Hinsicht verstellt zu sein. Steiners Darstellungen werden entweder bibliognostisch rezipiert oder externalistisch kritisiert. Externalistische Kritiker monopolisieren für sich selbst eine besondere Urteilskompetenz, weil sie Steiners Lehren objektivistisch und empathiefrei von, außen‘ bewerten wollen, während empathische Rezipienten für sie grundsätzlich suspekt sind. Weit davon entfernt neutral zu sein, versäumen sie dabei regelmäßig ihre eigenen – im günstigen Fall theoretischen und im ungünstigen theologisch oder ideologisch gefärbten – Voraussetzungen zu reflektieren. Sie sehen auch darüber hinweg, was Parker Palmer und Arthur Zajonc (2010) zur objectivist epistemology bemerkt haben, nämlich, dass es sich dabei um einen sehr fragwürdigen objektivistisch-positivistischen Mythos handelt:

An objectivist epistemology is based on the myth that we must hold the world at arm’s length in order to know it purely, untainted by subjectivity, then transmit what we know in ways that keep us and our students distanced from that world. It stands to reason that this form of education would breed ‘educated’ people whose knowledge of the world is so abstract that they cannot engage the world morally.1

Traditionelle Vertreter anthroposophischer Lehren übertreffen sich hingegen gerne in der Nacherzählung und Zusammenstellung von Textstellen, oft ohne in eine eigene geistige und kritisch-differenzierende Forschung einzutreten. Sie verwechseln so die Landkarte mit der Landschaft und reagieren gereizt auf jedwede Abweichung.

Steiners Werk ist jedoch zu wegweisend und komplex, als dass man es, Externalisten‘ und den mehr oder weniger naiven Nachahmern überlassen dürfte. In beiden Fällen geht es letztendlich darum, ob die überlieferten Texte Steiners insgesamt und in allem Recht haben oder nicht, und beide stürzten sich dabei in der Regel auf eine einseitige und ihren Zielen dienliche Textauswahl. Worum es in der spirituellen Kultur schon immer gegangen ist, die Überwindung des Nichtwissens durch Erweiterung und Vertiefung des Bewusstseins und die Erlangung höherer Freiheitsgrade, scheint dabei keine bedeutende Rolle mehr zu spielen.

Vielversprechender für die Auseinandersetzung mit den Inhalten Steiners und den Personen, die ähnliche Themen entwickelt haben, ist es, von persönlich gelebten und aktuellen gesellschaftlichen grundlegenden Herausforderungen auszugehen und zu untersuchen, ob sich in Steiners Inhalten zu den jeweils spezifischen Fragestellungen weiterführende Perspektiven finden lassen. Man kann das eine experimentelle Hermeneutik nennen, der es weniger um Textexegese, sondern um die vorbehaltlose Erschließung und erlebende Vertiefung kulturgeschichtlicher Beiträge anhand von überlieferten Textdokumenten geht. Wer Steiner heuristisch liest, wird sich mit sehr verschiedenen Themen wie der herausragenden Bedeutung voreuropäischer Kulturen und Lebensformen, der historischen Bedeutung des modernen westlichen Materialismus, der Bedeutung moderner Wissenschaftlichkeit und unterschiedlicher spiritueller Wege, wie dem Yoga, den buddhistischen und kabbalistischen Traditionen und der europäischen Mystik, und nicht zuletzt mit seiner eigenen Relativierung der zeitgebundenen Darstellungsform der Anthroposophie beschäftigen müssen. Wer in Steiner den einzigen Lehrer oder einfache Antworten auf komplexe Fragen zu finden hofft, sucht indes vergeblich. Dazu ist sein Werk zu komplex, und zu unterschiedlich erscheinen ähnliche Sachverhalte in den verschiedenen Textsorten und Stadien seines Wirkens.

Kritiker versuchen mitunter einen generellen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit von Aussagen Steiners zu säen und sich so eine kritische Auseinandersetzung mit diesen zu ersparen. Man sollte dabei bedenken, dass es beim wissenschaftlichen Erkennen um die methodische Sicherung des Wahrheitsanspruchs einer Aussage geht. Man muss angeben können, wie man zu einer Erkenntnis gelangt ist und was für die vorgeschlagene Sichtweise spricht – diese Angaben müssen von anderen nachvollzogen bzw. überprüft werden können. Diese Voraussetzungen unterscheiden wissenschaftliche von ideologischen oder religiösen Standpunkten, die inhaltlich zwar nicht notwendigerweise falsch sein müssen, aber sich lediglich auf eine autoritative Verkündigung berufen. Wissenschaftlichkeit besteht eben nicht in der Voraussetzung oder Ablehnung eines bestimmten Weltbilds, sondern in einer methodischen Haltung. Zudem ergeben sich die geeigneten Methoden zur Begründung einer Erkenntnis aus der Natur der jeweiligen Sache bzw. des Sachverhalts, um den es geht. Daher ist es wichtig auch bei spirituellen Themen, wie sie sich z.B. in der Bhagavad Gita oder in Steiners Texten finden, zu fragen: Welche Erkenntnismethoden sind dem Gegenstandsbereich philosophischer Auseinandersetzungen oder spiritueller Erfahrungen und Einsichten überhaupt angemessen?

Was nun den Wissenschaftsanspruch bei Steiner betrifft, wird leider zu wenig darauf geachtet, was überhaupt in den textlich überlieferten Dokumenten als Aussage mit Wissenschaftsanspruch anzusehen ist. Denn es gibt viele Formen, über Sachverhalte zu reden und die wissenschaftliche ist nur eine davon. Eine Äußerung kann z.B. als biographische Erzählung, als persönliche Mitteilung, als didaktische Vereinfachung, als Witz oder poetisch, belletristisch oder als Anekdote gemeint sein. Es ist sinnlos alle textlich überlieferten Äußerungen Steiners am Maßstab der Wissenschaftlichkeit messen zu wollen. Das macht bei keinem Philosophen, Künstler, Politiker oder anderen Menschen Sinn. Mit dieser Methode würde wohl die Kulturentwicklung der Menschheit auf eine mikroskopisch kleine Gruppe reduziert werden, ohne dass für die Gegenwart daraus ein Nutzen entstehen würde. Es ist daher bei Steiner erforderlich, Aussagen in Büchern und Essays, die an ein allgemeines Publikum gerichtet waren, von Aussagen und Darstellungen zu unterscheiden, die situativ getätigt wurden und lediglich von anderen kolportiert, protokolliert oder stenographiert worden sind. Schließlich sollte man sich bei jedem Autor, von dem vieles überliefert wurde, fragen, welche Darstellungen und Überlieferungen überhaupt von Relevanz sind und zum Kern der Sache führen. Mit diesen Überlegungen wird zwar die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Aussagen über rein Geistiges oder Überphysisches nicht beantwortet, aber diese Differenzierung vermeidet einstweilen Verzerrungen und Verwirrungen.

Die obigen Überlegungen bilden den Hintergrund für die Arbeit des IBUGI mit den Impulsen Steiners. Seine bereits oben genannte übergeordnete Leitfrage ist: Wie hängt die innere Entwicklung als individueller Mensch mit der Gestaltung der Gesellschaft und insbesondere von gemeinnützigen Organisationen zusammen?

Das IBUGI bzw. die in ihm tätigen Personen, verfolgen eine ergebnisoffene Form der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Steiners Denken, welche die oben genannten Gesichtspunkte zur Methodenvielfalt berücksichtigt. Bewusstseinsentwicklung bzw. spirituelles Denken sind weder ein Privileg alter Kulturen noch ein kopfloser Sprung ins irrationale Dunkel. Vielmehr sind sie ein integraler Bestandteil der Kulturen offener Gesellschaften, die sich von der positivistischen eurozentristischen Hybris des 19. Jahrhunderts und der unreflektierten naturalistischen Wissenschaftsgläubigkeit gleichermaßen befreien.