‚Entwicklung‘ in der Waldorfpädagogik – nach innen oder nach draußen?
Die Waldorfpädagogik ist ähnlich wie der erziehungswissenschaftliche Ansatz Maria Montessoris eine Entwicklungspädagogik, in welcher die Normen und Formen von Erziehung und Unterricht zentral aus den Altersstufen der Kinder und Jugendlichen hergeleitet werden sollen. Dementsprechend lautet die Fragestellung des von den beiden Hochschullehrern Weiss und Willmann (Alanus Hochschule) herausgegebenen umfangreichen Sammelbandes, „ob und wie das Entwicklungsverständnis der Waldorfpädagogik auf sinnvolle und fruchtbringende Weise im Kontext (aktueller) bildungswissenschaftlicher Konzepte und Debatten erörtert und verortet werden kann“ (2).
Charakteristisch für die waldorfpädagogische Entwicklungslehre ist nicht nur die strikte Bindung an einen Siebenjahresrhythmus der Lebensalter, sondern vor allem die ‚ganzheitliche‘ Verknüpfung der körperlichen Reifungsprozesse mit dem Aufbau emotionaler und voluntativer Fähigkeiten sowie kognitiver Kompetenzen. Rudolf Steiner spricht von vier ‚Geburten‘ des Kindes, in denen der physisch-mineralische, der vegetativ-ätherische, der seelisch-astralische Leib und der geistige ‚Ich-Leib‘ quasi stufenweise aufsteigend jeweils nach sieben Jahren die sie vorher schützend umgebenden ‚Hüllen‘ verlassen, in der Welt in Erscheinung treten und sich in psychische ‚Kräfte‘ verwandeln: der physische Leib mit der Geburt in die äußeren Sinne, der ätherische mit dem Zahnwechsel in die inneren Sinne, der astralische mit der Geschlechtsreife in das begriffliche Denken und der ‚Ich-Leib‘ um das einundzwanzigste Lebensjahr in die Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung.
Insgesamt gesehen sind mit Stufenmodellen der Entwicklung systematisch die folgenden Problematiken verbunden: Sie produzieren einen Begriff der Normalität, der die Eigensinnigkeit und freie Bildsamkeit der Heranwachsenden einschränkt und die interaktive Mitbestimmung der Einzelnen in ihrem Bildungsprozess außer Acht lässt. Erziehungswissenschaftlich informierte Waldorfpädagogen konzedieren einerseits diese kritischen Einwände gegen die steinersche Entwicklungslehre, ihren oft forschungsfernen Ganzheitsanspruch und ihre bedenklichen Festlegungstendenzen; sie sprechen ihr aber trotz allem weiterhin die Qualität zu, wegweisend zu sein, wenn auch zunächst in heuristischer Hinsicht.
Das wichtigste Kriterium für die Beurteilung der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes wäre also die Bemühung um eine Forschungszugänglichkeit des Entwicklungsverständnisses der Waldorfpädagogik im Diskurs mit den Theorien und Befunden der Bildungswissenschaften, ein weiteres der Nachweis der produktiven Wirkungen des Konzepts auf die pädagogische Praxis. Im Grunde geht es um die Frage, ob der vorliegende Sammelband dazu beiträgt, den Diskurs über die Gedankenwelt der Waldorfpädagogik nach ‚außen‘ in die Welt der etablierten akademischen Erziehungswissenschaft zu öffnen oder ob er primär apologetisch nach ‚innen‘ auf eine anthroposophisch eingestimmte Leserschaft zielt. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen dieser Betrachtung nicht sämtlichen zwanzig Beiträgen des Bandes dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Im Vordergrund sollen hier exemplarisch die stärker grundlegend orientierten Texte stehen.
Schon vorweg muss gesagt werden, dass von keiner Autorin bzw. keinem Autor die Entwicklungslehre Rudolf Steiners in ihrer Geltung und Genese kritisch diskutiert wird; sie gilt als vorausgesetzte Basis aller Überlegungen und Praktiken, die in den Beiträgen selbst als solche nicht weiter hinterfragt wird. Allerdings zeichnen sich einige der grundlegenden Beiträge dadurch aus, dass sie das waldorfpädagogische Entwicklungskonzept in den größeren Rahmen erziehungswissenschaftlicher Stufen- und Bildungstheorien hineinstellen und die Waldorf-Spezifika im Kontrast dazu affirmativ entfalten. Das gilt z. B. für die beiden Aufsätze von Karl Garnitschnig, in denen er nach einem Überblick über die klassischen Stufenmodelle z. B. eines Piaget, Erikson, Kohlberg u. a. seinen aus eigener Intuition gewonnenen spirituellen Begriff der Entwicklung als „dauernden Prozess auf ein vollendetes Menschsein hin“ (38) samt seinen pädagogischen Implikationen vorstellt. Mit dem Gedanken eines zugleich ‚ökologischen‘ Verständnisses der menschlichen Entwicklung erinnert er zugleich an die Idee der ‚kosmischen Erziehung‘ der Theosophin Maria Montessori. In seinem zweiten Beitrag, der von der Entwicklung des moralischen Urteils handelt, setzt sich Garnitschnig von den kognitivistischen Ansätzen der Piaget-Schule ab, indem er die emotionale Dimension und die Beziehungsdynamik ins Spiel bringt: „Moral ist die Vorstellung eines Guten, die Regeln eines guten Zusammenlebens in wechselseitiger Anerkennung betrifft“ (295). Es geht hier entwicklungspädagogisch gesehen gerade auch um die, Vorstellung des Guten‘ und seine Realisierung in der, Ich-Du-Beziehung‘. Es ist schade, dass Garnitschnig für die philosophische Fundierung seiner pädagogischen Überlegungen nicht an den neueren sozialwissenschaftlichen Diskurs über Anerkennung (z. B. bei Axel Honneth oder Norbert Ricken) anschließt.
In seinem instruktiven Beitrag über religiöse Entwicklung und Erziehung in der Waldorfpädagogik setzt sich Carlo Willmann deutlich von den zuvor von ihm kompetent referierten Stufentheorien der religiösen Entwicklung ab, weil sie einseitig kognitive Denkmuster zulasten, religiöser Emotionalität‘ betonen und damit „der Tiefe religiöser Lebenserfahrungen“ (325) nicht entsprechen würden. Willmann rekurriert deshalb auf Steiners esoterische Annahme eines im Astral-Leib wurzelnden und heranreifenden emotionalen sowie voluntativen religiösen Grundbedürfnisses, das seinen Ausdruck in konkreten Fomen unterschiedlicher Religionen sucht. Im ersten Lebensjahrsiebt seien die religiösen Haltungen, Gefühle und Motivationen, leibgeprägt‘, im zweiten, seelenorientiert‘ und im dritten Jahrsiebt des Jugendalters, geistorientiert‘ (332). Im Rückgang auf die Religionsphilosophie Martin Bubers korreliert Willmann diese drei Entwicklungsphasen von, unten‘ nach, oben‘ trinitarisch mit den drei unterschiedlichen Beziehungssphären zum Göttlichen: der, Vater-Religion‘, der, Sohnes-Religion‘ und der, Geistesreligion‘. So soll der Weg der religiösen Entwicklung in der Waldorfpädagogik „von der Schöpfung des Vaters über die Liebe des Sohnes zur Wahrheit des Geistes“ führen (338). In jeder dieser drei Beziehungswelten sollen sich die Kinder und Jugendlichen durch die stufengemäße Vermittlung religiöser Formen und Inhalte nacheinander, beheimaten‘, um sich schließlich zu religiös autonomen Persönlichkeiten zu bilden. Carlo Willmann geht in seiner theoretisch anspruchsvollen Argumentation aus von etablierten wissenschaftlichen Diskursen über religiöse Entwicklung, bindet diese an die Stufenlehre Steiners und schlägt dann per Analogie eine Brücke zu den drei theologischen Beziehungssphären bei Martin Buber. Der Beitrag reflektiert seinen Umgang mit Steiners Vorgaben nicht näher auf seine methodische Validität und nimmt auch keinen Bezug zu empirischen Studien über die (multi-)religiöse Sozialisation heutiger Kinder und Jugendlichen.
Von einer ähnlichen Ambivalenz zwischen dem unbefragten Geltenlassen der steinerschen Jahrsiebtenlehre einerseits und dem Interesse an ihrer philosophischen Reflexion im Lichte aktueller bildungstheoretischer Ansätze andererseits ist der lesenswerte Beitrag von Leonhard Weiss bestimmt: „Durch die Fremd-Werdung… Überlegungen zu einem Aspekt des Zusammenhangs von ‚Entwicklung‘ und ‚Bildung‘ in der Waldorfpädagogik“ (45–66). Von Weiss als geltend vorausgesetzt wird Steiners Sicht auf Entwicklung als (Re-)Inkarnationsprozess, in welchem eine geistige Wesenheit sich in den ersten drei Jahrsiebten mit der Leiblichkeit des Kindes und Jugendlichen verbindet. In diesem Prozess gibt es deutliche Zäsuren wie die Schulreife, Erdenreife und Ich-Reife am Ende des jeweiligen Jahrsiebts sowie das sogenannte ‚Rubikon-Erlebnis‘ nach dem Ende des ersten Drittels im zweiten Jahrsiebts – etwa im neunten oder zehnten Lebensjahr. Diese Zäsuren versucht Weiss – in enger Anlehnung an Hans-Christoph Kollers Theorie der, transformatorischen Bildung‘ – als krisenhafte Momente zu begreifen, in denen die innere Entwicklung den jungen Menschen notwendigerweise in eine Situation der Entfremdung führt, in welcher er neue tiefgreifende Bildungserfahrungen in seinem Verhältnis zu Natur, Mitwelt und eigenem Selbst macht. Weiss unternimmt hier also den interessanten Versuch, durch Einbeziehung eines aktuellen bildungsphilosophischen Diskurses das entelechetische waldorfpädagogische Entwicklungsverständnis durch ein positives Verständnis von krisenhaften Entfremdungsprozessen zu erweitern. Dieses Vorhaben hätte allerdings noch mehr an Überzeugungskraft gewinnen können, wenn es auch die Verbindung zu strukturell affinen Ansätzen aus der Sozialisationsforschung, z. B. Helspers Konzept der vier grundlegenden Ablösungskrisen im Prozess der Individuation, einbezogen hätte.
Die bisher referierten theoretischen Beiträge von Garnitschnig, Willmann und Weiss zeichnen sich durch eine dialogische Offenheit gegenüber – zumeist klassischen – erziehungswissenschaftlichen Entwicklungskonzepten aus, was ihnen bei aller Tendenz zu einer rein binnenanthroposophischen Betrachtung einen hohen Anregungsgehalt verleiht. Dies kann nicht in der gleichen Weise über den Aufsatz von Edwin Hübner „Entwicklung in Zeiten der Digitalisierung“ (97–116) gesagt werden. Auch Hübner geht spekulativ von einer spirituellen Sicht auf die sich in drei Phasen bzw. Stufen vollziehende Entwicklung (,Be-Leibung‘) des jungen Menschen aus, deren harmonisch-gesunder Ablauf allerdings in einer von digitalen Medien und Techniken beherrschten Welt tiefgründig bedroht ist: „Der Leib ist das Instrument des Geistes, um in der Welt zu sein. Im Leib hat sich der Geist des Menschen in die Welt ‚eingeboren‘. Sowohl die analogen als auch die digitalen Medien stellen sich zwischen die Leib- und die Welterfahrung, indem sie das Zusammenspiel der Sinne auflösen“ (105). Vor dem Bildschirm des Computers bzw. des Smartphones werden das Kind bzw. der junge Mensch zum ‚körperlosen Geist‘, der sich von der eigenen Sinnlichkeit und Primärerfahrung abspaltet. Es ist für Hübners fast schon apokalytische Züge tragendes Technik- und Digitalisierungsverständis (,Spaltung des Menschen‘) nur konsequent, dass er Medienpädagogik in Waldorfkontexten bis zum Ende der Kindheit als digitale Medienabstinenz begreift. In seinem in Sechsjahres-Zyklen (!) aufgebauten „entwicklungsorientierten Mediencurriculum“ (111) unterscheidet er zwischen einer digital abstinenten, indirekten Medienpädagogik‘ des Spielens, Malens, Schreibens, Lesens usw. vom Kindergarten bis zum Ende des 6. Schuljahres und einer ‚direkten Medienpädagogik‘, die erst danach in die digitalen Techniken und ihre Handhabung einführt. Hübners Programm einer digitalen Entgiftung ist ein Beispiel für eine normative Medienpädagogik, die ihre Leitsätze aus weltanschaulichen Prämissen ableitet, ohne sich empirisch mit den vielfältigen Nutzungen der unterschiedlichen elektronischen Medien in den kindlichen und adoleszenten Lebenswelten und ihrer jeweiligen Bedeutung für die subjektiven Bildungsprozesse auseinanderzusetzen. Nicht erst der während der Corona-Krise verstärkt zum Einsatz gekommene Distanzunterricht hat gezeigt, welches Innovationspotenzial in der Digitalisierung von Lehr- und Lernprozessen vor allem für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe stecken kann. Allerdings ist die damit oft verbundene Verstärkung der soziokulturellen Spaltung der Schülerschaft auch kritisch zu sehen.
Eine ähnliche Differenz zwischen Steiner affinen und dialogisch orientierten Positionen lässt sich auch unter den Beiträgen des Sammelbandes konstatieren, die sich insofern als, grundlegend‘ verstehen, weil sie sich nicht mit der Entwicklungslehre der Waldorfpädagogik, sondern mit der Entwicklung der zu ihr hinführenden anthroposophischen Denkweise befassen. „Ich muss mich selbst entwickeln, um den anthroposophischen Entwicklungsbegriff verstehen zu können“ (359) – das ist die Ausgangsthese des Beitrags von Wolf-Ulrich Klünker über „Entwicklung. Wirksamkeit und Begriff“ (359–370). Steiner folgend geht es ihm darum, ein Bewusstsein über das eigene Denken zu gewinnen und dieses zum Erkenntnisorgan für übersinnliche Wesenheiten auszubilden. Das hier gemeinte, neue Denken‘ führt nach Klünker aus der Abstraktion heraus, ist „willensgetragen und hat seelisch-empfindungsbildende Wirkung; […] wird gleichsam zur, Methode‘ menschlicher Selbstentwicklung“ (367). Allerdings lässt es der Autor nicht bei der Darlegung der, Entwicklungsflexibilisierung‘ des, neuen Denkens‘ und seiner spirituellen Erlebnisqualität bewenden. Denn Klünkers Interesse ist zugleich eine grundsätzliche Kritik und Infragestellung der etablierten akademisch-wissenschaftlichen Forschung als abstrakte Erkenntnis der, Unter-Natur‘, als eine reine, Versammlung von Worten‘. Der Psychologie wirft er vor, dass sie sich nicht mehr mit der menschlichen Seele, sondern nur noch mit, Unter-Seelischem‘ befasse. Und die Pädagogik reflektiere nicht mehr die Entwicklung und Erziehung des jungen Menschen, sondern plädiere als eine Art, Unter-Pädagogik‘ mehr für Leistung als für Bildung. Auch wenn man Klünkers Begründung eines neuen, sich selbst entwickelnden Denkens als gelungene Wiederaneignung steinerscher Vorgaben mit Interesse lesen kann, überwiegen doch die gravierenden Bedenken gegenüber diesem Beitrag. Mit seinem einseitig spirituell ausgerichteten Denken und seiner stellenweise polemisch vorgebrachten Grundsatzkritik an den Theorien und Methoden der etablierten Wissenschaften kommt Klünker nicht in einen offenen Diskurs mit dieser Wissenschaft über, Entwicklung‘. Nicht nur das Literaturverzeichnis, sondern auch der aus dem vermeintlich, neuen Denken‘ entspringende intellektuelle Überlegenheitsanspruch nähren Zweifel an der Offenheit gegenüber den heutigen akademischen Wissenschaften vom Menschen und von der Natur.
Dies ist anders in dem Beitrag von Wolfgang Tomaschitz „,Wenn ich einmal groß bin…‘. Was es vernünftigerweise heißen könnte, seine Entwicklung, selbst in die Hand zu nehmen‘“ (371–390). Auch Tomaschitz geht es um die Begründung des Weges zu einer geistigen (Höher-)Entwicklung des Selbst – um ein zentrales Thema der steinerschen Anthroposophie, welches auch schon Philosophen wie Platon, Kant, Fichte u. a. beschäftigt hat. Dazu referiert er aber zunächst prominente Positionen aus dem aktuellen philosophischen Diskurs über das menschliche Bewusstsein und gelangt dann zu dem bemerkenswerten Fazit: „Eine Gewissheit über ein wahres Selbst – um auf Steiners Fragestellung zurückzukommen – oder bescheidener, eine gültige Einsicht in die Natur des Bewusstseins, ja selbst eine Entscheidung über die Sinnhaftigkeit dieser Fragen scheint nach diesen Befunden außer Reichweite“ (375). Tomaschitz ist – auf den Spuren Steiners – allerdings nicht bereit, diese Unklarheit der Befunde und die Grenzen unseres Wissens zu akzeptieren. Ganz wie in, Pascals Wette‘ über den Vorteil des Gottesglaubens gegenüber dem Unglauben entscheidet er sich existentiell für die Annahme, dass die Welt einen geistigen Ursprung hat, zu welchem das Bewusstsein durch meditative Erfahrungen kognitiven Zugang erlangen kann. Ähnlich wie in der buddhistischen Tradition verlange dieser spirituell ausgerichtete Weg der, Bewusstseinsforschung‘ hochgradige Konzentration und eine Reihe neuer Begriffe. Denn „es macht einen großen Unterschied, ob ich – in der Übungssituation – hinter dem Verschwinden jeglicher Konturen eine lebendige lichtvolle Wirklichkeit erwarte oder ob mich – weil mir diese Deutungsmöglichkeit fehlt – der Verdacht beschleicht, dass ich hier ins Abwegige geraten bin…“ (386). Tomaschitz meint mit den, neuen Begriffen‘ vermutlich die begriffliche Semantik der steinerschen Geisteswissenschaft, darunter eben auch die mikrokosmisch geschaute Entwicklungslehre der menschlichen Lebensalter. Die Stärken von Tomaschitz’ Plädoyer für die Möglichkeit einer geistigen (Weiter-)Entwicklung des Bewusstseins liegen in seiner kenntnisreichen Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisstand der Philosophie und in der treffenden Charakterisierung des anthroposophischen Schulungsweges zur Erkenntnis der höheren Welten als eine Suchbewegung, für die man sich existenziell entscheiden müsse.
Von den zahlreichen weiteren Beiträgen seien nur noch diejenigen kurz erwähnt, die wissenschaftlich gut informiert originelle Aspekte der entwicklungsorientierten Waldorfpädagogik vorstellen, welche auch für die Schulentwicklung im öffentlichen Schulwesen und für die akademische Schulpädagogik von Bedeutung sind. Anita Wurm befasst sich mit dem Zeitwohlstand in dieser das Lernen entschleunigenden Schulkultur, in der viele Schülerinnen und Schüler u. a. durch das besondere Gewicht der künstlerischen Übungen zu einer harmonischen Bildung ihrer Persönlichkeit gelangen können. Carmen Iulia Stanciu-Lamer betont nach einem Exkurs in die klassische Ritualforschung die zentrale Stellung der Rituale in der Waldorfpädagogik und beschreibt ihre vielfältigen Formen vom Aufbau der einzelnen Unterrichtsstunde bis hin zur rituellen Gliederung des Schuljahres. Die umfassende rituelle Gestaltung der Erziehungs- und Lernkultur im Waldorf-Setting verdeutlicht sie am Beispiel des Michaeli-Festes. Sebastian Paul Suggate arbeitet unter Bezugnahme auf einschlägige Studien die Bedeutung der körperlichen Bewegung und der Sinneserfahrungen für das kognitive Lernen heraus. Dieses, ganzheitliche‘ Lernverständnis erfährt aktuell durch die neuropsychologische Forschung und den sogenannten ‚Embodiment-Ansatz‘ eine wichtige Unterstützung. Ann-Claire Morris kann in ähnlicher Weise zeigen, dass der waldorfpädagogische Ansatz zum Erwerb der Schriftsprachfähigkeit in der einschlägigen Forschung seine aktuelle Bestätigung erfährt und auch von Regelschulen adaptiert wird. Er ist bekanntlich durch den Weg vom Zeichnen zum Schreiben, den besonderen Wert der Sprachgestaltung und das Angebot vielfältiger Bewegungserfahrungen charakterisiert. Lesenswert ist auch in diesem Band der Beitrag von Walter Riethmüller über den Wandel der pädagogischen Beziehungen in der Waldorfpädagogik gemäß dem Rhythmus der Jahrsiebte, auch wenn der Autor hier ganz im anthroposophischen Kontext verbleibt und auf den Diskurs mit gängigen erziehungswissenschaftlichen Ansätzen der Bindungs- bzw. Adoleszenzforschung verzichtet.
Aufs Ganze gesehen ist Leonhard Weiss und Carlo Willmann die Edition eines gehaltvollen und inspirierenden Sammelbandes gelungen, der zeigt, dass sich die Waldorfpädagogik in ihrer Auseinandersetzung mit der akademischen Pädagogik immer stärker ‚nach draußen‘ zu den fach- und bildungswissenschaftlichen Diskursen öffnet. Allerdings gibt es weiterhin auch noch die zentripetalen Kräfte, die, nach innen‘ gerichtet meinen, dass Steiners Aussagen auch in der akademischen Diskussion weiterhin unbefragt und unvermittelt Gültigkeit beanspruchen können. In zukünftigen Sammelwerken zu Grundfragen der Waldorfpädagogik braucht es allerdings unter den, Insidern‘ nicht nur eine noch stärkere dialogische Orientierung am wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch den kritisch vergleichenden und kontextuierenden Blick von außen. Dadurch erhielte das Interesse an der gemeinsamen Entwicklung einer humanen Schulkultur einen noch stärkeren Impuls.