Was ist herrlicher als Gold? fragte der König. – Das Licht, antwortete die Schlange. Was ist erquicklicher als Licht? fragte jener. – Das Gespräch, antwortete diese.
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Ulrich Kaisers Buch enthält neun in der anthroposophischen Zeitschrift Die Drei zwischen 2011 und 2018 erschienene sowie zwei als Einleitung bzw. als Schlusswort erstveröffentlichte Studien zu hermeneutischen Frage- und Problemstellungen der Anthroposophie und zu Rudolf Steiner als Literat und Redner. Es geht Kaiser (= Verf.) nicht um Steiner-Apologetik, sondern um eine am Verstehen orientierte Erörterung des Entwicklungspotenzials der Anthroposophie im ‚Zeitalter der Narrative‘. Adressiert sind die Essays sowohl „nach innen“, als „Aufräumarbeiten im eigenen Haus“ der Anthroposophie (37), die dabei wird „Federn lassen müssen“ (22), als auch „nach außen“, als das Sichtbarmachen von akademischen Anschlussmöglichkeiten der diskutierten Themen an gegenwärtige allgemeine wissenschaftstheoretische, fachwissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse (37).
Die neun Studien sind in drei Teile gegliedert. Der erste Teil analysiert Grenzen und Chancen der „Grundbegriffe“ Dogma und Hypothese als divergierende, resp. alternierende Rezeptionszugänge zum Werk Rudolf Steiners (40–99). Der zweite Teil bietet unter dem Topos „Umkehr der Denkform“ Beispiele für esoterisches Denken (100–137) sowie eine Analyse zur Debatte zwischen Rudolf Steiner und dem Parapsychologen Max Dessoir zu hermeneutischen Problemen eines einerseits ablehnend-kritischen und eines andererseits verständnisorientierten Umgangs mit der Anthroposophie (138–172). Der dritte Teil vermittelt über die Begriffe Performativität und Narrativität die im Vorherigen vorbereitete Kernthese des Buches, die den hermeneutischen Zugang zur Anthroposophie über den Erzähler Rudolf Steiner plausibel machen soll (156–254).
Die auf Verständnis und Dialog angelegte und im Ganzen offene Diktion der Analysen, Darstellungen und Interpretationen zu den Werken Steiners entspricht dem besonderen, wenn man so will, weichen „erzählerischen Charakter“ der Arbeit und ihrem dialogorientierten hermeneutischen Zugang. Ohne bekenntnishafte Verklärung oder „verbissene“ Apologetik wird dem Leser in „lockerer Haltung“ (89) ein breites, sachkundig ausgeleuchtetes und kritisch erörtertes Spektrum zentraler Problemstellungen der Anthroposophie zum Überdenken angeboten, wobei stets mögliche Anknüpfungspunkte zu entsprechenden, allgemeinen und speziellen Diskursen der akademischen Wissenschaften ins Spiel gebracht werden. Bei aller Offenheit in der Diktion ist gleichwohl ein klarer und begründeter Standpunkt des Autors, wenngleich unaufdringlich und subtil, erkennbar. Nämlich: die Anthroposophie nach dem ‚Ende der großen Erzählungen‘ (Lyotard) als potenziell nachvollziehbare, überschaubare und lebensweltlich-orientierende „kleine Erzählung“ zur kritischen Prüfung zu empfehlen (ebd.).
Die Fülle der erörterten, zum Teil auch nur angerissenen Themen sowie die produktive Systematik, mit der der Verf. seine Thesen entfaltet, sind geeignet, nicht nur der Steiner- und Anthroposophie-Forschung, sondern auch dem anvisierten Dialog mit der akademisch etablierten Wissenschaft vielversprechende Anstöße zu weiterer Arbeit zu geben.
Auch wenn die einzelnen Studien in einem Zeitraum von sieben Jahren und zu verschiedenen thematischen Schwerpunkten entstanden und veröffentlicht wurden, so lässt sich im Aufbau des Buches gleichwohl eine sich entfaltende argumentative Logik erkennen, die sich einerseits auf die Darlegung einer differenzierten Deutungsstruktur der Anthroposophie im engeren Sinne bezieht und die andererseits in einen weiteren, auch aktualisierenden wissenschaftstheoretischen und ideengeschichtlichen Kontext eingebettet ist. So etwa in die theologische und philosophische Diskussion um Bestand und Wandel von Dogmen, die sprachphilosophische und kulturwissenschaftliche Debatte um Performanz und Narrativität u. a. m. Die sich auf dieser kontextuellen Ebene ergebenden Fragen nach Kohärenz, Relevanz und Defizienz der vom Verf. hergestellten Beziehungen der Anthroposophie zu diversen Theoriemodellen lassen sich vom Aufbau des innovativen, anspruchsvollen und systematisch durchdachten Analyse- und Deutungsangebots zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner trennen. Dabei liegen die innovativen Stärken des Buches vor allem auf der methodologischen Ebene der Entfaltung einer hermeneutischen Tiefenstruktur zur Erörterung und Beurteilung der Anthroposophie und ihres Gründers und Interpreten. Auf diesen Schwerpunkt soll zunächst und eingehender hingewiesen werden. Fragen und kritische Anmerkungen zur Verknüpfung mit werkgeschichtlichen Kontexten wie zu den vom Verf. aufgerufenen Theoriemodellen sollen zum Schluss angesprochen werden.
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Ausgangspunkt der anthroposophie-spezifischen Debatte bildet die für die gesamte Arbeit folgenreiche „Dekonstruktion des Dogmas“ (40–73) im Hinblick auf das Selbstverständnis der Anthroposophie sowie auf die veränderte Bedeutung bzw. Rolle, die dadurch deren Gründer zugewiesen wird. Von einer Dogmatik der anthroposophischen Lehre ließe sich, so die These, nur in einem ambivalenten, dekonstruktivistischen Sinne sprechen. Denn Dogmen sollten nach Steiner „einerseits gebildet, konstruiert werden, andererseits aber auch fortwährend überwunden, d. h. destruiert werden. Das Verhältnis zu den Dogmen ist in bestimmtem Sinn ambivalent und paradox“ (56). Dogmatik sei für Steiner „ein notwendiger Gegenbegriff, den er als Widerhalt braucht, von dem er sich aber unentwegt abstoßen muss.“ Dogmen seien für ihn „Mittel, Vehikel, aber nicht repetitiv zu zitierende Inhalte vermeintlich eigenständiger Erkenntnis [der Rezipienten]“ (63). In jedem Falle aber gelte: „Der Umgang mit der [anthroposophischen] Dogmatik geschieht denkend – nicht ‚schwärmerisch‘ oder ‚gläubig‘“ (57). Infolgedessen hätten auch anthroposophische Lehrmeinungen eine weniger inhaltliche als vielmehr funktionale Bedeutung im Dienst kritischer Urteilsbildung.
Mit dem Abschied vom unverrückbaren Dogma anthroposophischer Lehren gehen zwangsläufig zwei weitere fundamentale Deutungsänderungen einher. Die erste betrifft den als hypothetisch, gleichwohl regulativ oder heuristisch (96) angesetzten Status der einzelnen anthroposophischen Lehrinhalte, deren Geltung im Sinne des Verf. nunmehr jederzeit einer kritischen, gleichwohl methodisch geleiteten Prüfung zu unterziehen sei, Irrtümer – wie etwa Steiners durch Haeckel inspirierte Annahmen zum Kontinent Lemurien (82–88) – und Revisionen nicht ausgeschlossen (98 f.). Dabei verweisen die Termini regulativ‘ und heuristisch‘ auf den impliziten, aber kritisch zu erörternden und „erfahrungsbezogenen“ Geltungsanspruch anthroposophischer Lehrinhalte, die unter diesen Prämissen als „potentiell irrtumsbehaftete […] sensible Behauptungen“ (99) zu verstehen seien. Die zweite fundamentale Veränderung nach der Dekonstruktion des Dogmas und der Etablierung hypothetisch-probabilistischen Denkens und experimenteller Prüfung der anthroposophischen Lehrmeinungen betrifft den Status Steiners. Dieser sei demzufolge und konsequenterweise nicht mehr als unfehlbarer Guru oder hellsichtiger Menschheitslehrer, sondern als „Geistesforscher“ und „Erzähler“ zu verstehen, der keinem gläubigen, sondern einem forschungsbereiten Publikum erfahrungsbasierte Dimensionen esoterischen Denkens und Erlebens zum selbstverantworteten Mitvollzug, zur Erprobung, Prüfung und Beurteilung vorlege (75 f.). Im Rahmen dieser drei Eckpunkte (Dekonstruktion des Dogmas, Aufwertung und Spezifizierung der Hypothese sowie der veränderten Rolle Steiners) entfaltet der Verf. ein inhaltlich und methodisch durchdachtes und systematisch differenziertes Modell für eine in weiten Teilen hermeneutische Neubestimmung zu Wesen und Bedeutung der Anthroposophie und ihres Gründers, das zugleich als Voraussetzung für einen kritisch-rationalen, das heißt wissenschaftlichen Umgang mit Steiners Werk fungieren soll. Beiläufig, wenngleich nicht unbedeutend, wird in diesem Zusammenhang Steiners spezifisches Verständnis von Esoterik thematisiert. Kernstücke des Modells sind die in den drei Teilen des Buches aus den argumentierenden Textzusammenhängen entwickelten vier Schemata (70/97/170/209), denen in systematischer Bedeutung insbesondere auch die Abbildung V, Steiners „Notizblatt“ zum „Wirbel“ (133), hinzuzurechnen ist.
Das erste Schema (70) betrifft den Vorschlag zu einer dreiteiligen Neujustierung des Verhältnisses der Rezipienten gegenüber dem Werk Rudolf Steiners. So schlägt die Hermeneutische Distanz eine offene, sich-einlassende und dabei erfahrungsorientierte, gleichwohl reflektierte Haltung vor, die das hermeneutische Prinzip der Ästhetischen Differenz mit der Aufforderung zu einem methodisch variablen, multiperspektivischen, auch experimentellen Umgang mit den Werken Steiners vertieft. Ein Vorschlag, der später mit der interdisziplinären, insbesondere auch künstlerischen Betrachtungs- und Herangehensweise, etwa im Sinne des Filmprojekts zur Akasha-Chronik von Andrej Tarkowski und Alexander Kluge (233–246), konkretisiert wird. Im Sinne der Sensibilisierung für eine Horizonterweiterung empfiehlt die Dialogische Konstellation einen responsiblen‘, auch Asymmetrien aushaltenden Austausch zwischen dem eigenen Verständnishorizont der Rezipienten und den Werken Rudolf Steiners. Mit diesen drei „aktiven Beziehungsformen zum Werk Steiners“ (70) entwirft der Verf. einen interessanten Rezipienten- oder Forscher-Typus, der bereit ist, sich jenseits der unproduktiven Gegensätzlichkeit von unbesonnener Apologetik und verständnisloser Ablehnung interessiert-distanziert, gleichwohl konstruktiv und erfahrungsoffen mit dem Werk Steiners und ihm selbst auseinanderzusetzen.
Die inhaltliche Konsequenz der Dekonstruktion des Dogmas und der Betonung der regulativen Hypothese als „sensible Behauptung“ ist die Herausarbeitung der experimentellen (später auch performativen) Dominanz esoterischer oder spiritueller Erfahrungen und der ihnen zugeordneten Wissenstypen. Zu deren erfahrungsorientierter Erschließung und systematischer Erfassung werden im zweiten Schema (97) die bekannten anthroposophischen Erkenntnisstufen Imagination, Inspiration und Intuition als distanziert-kritisch zu erprobende und zunächst hypothetisch gesetzte „Gesten“ spiritueller Erkenntnis erörtert. Eingebunden sind die drei Stufen in die Differenz ihrer existenziellen oder lediglich theoretischen Betrachtung. Woraus sich für den Verf. zwei weitere Ebenen, nämlich die der „bloßen“ rezeptiven Kenntnisnahme dieses Modells „als Erzählung“ einerseits sowie dessen bereitwillige erfahrungsorientierte Erprobung und Konkretisierung als „verwandelter Weg zurück“ andererseits ergeben (97). Die dem platonischen Höhlengleichnis nachempfundene, im anthroposophischen Jargon versprachlichte Konzeption verdeutlicht das, was der Verf. mit dem Begriff regulative Hypothese – als erkenntnistheoretischem Status der Anthroposophie – genauer meint. Nämlich die individuelle Erfahrungs- und Erprobungsdimension sowie deren Ausrichtung an den Inhalten der esoterischen und spirituellen Lehr- und Lernangebote der Anthroposophie, und zwar im Hinblick auf eine existenzielle Orientierung und eine angewandte Lebenslehre. Hier fungiere die Anthroposophie im Sinne Steiners als möglicherweise „brauchbare Lebenshypothese“ (79).
Den experimentell-hypothetischen, handlungs- und erfahrungsorientierten Charakter dieses Modells verdeutlichen dann die im zweiten Teil des Buches durchgespielten Übungen zur „esoterischen Denkform der Umkehr“ und die darin implizit zum Austrag kommenden Aspekte von Steiners weniger wissens- als vielmehr handlungsorientiertem Esoterikverständnis. Was als die äußere Sinnenwelt betreffende zeitlich-räumliche Wahrnehmungsübung zur Umkehrung von raum-zeitlichen Prozessen ansetzt, führt approximativ über die Übung zu „Bild und Keim“ und der „Umkehrung des Willens“ zur kritischen Universalbetrachtung der „Stellung des Menschen im Kosmos“ und erreicht, im Durchgang der metaphysischen Dialektik einer Coincidentia oppositorum („Leere“), mit der des „Wirbels“ (131 Abb. V), dem vom Verf. vermuteten „Kürzel für das Denken Rudolf Steiners“ überhaupt (134), die höchste oder innerste esoterische Erkenntnis- oder Erfahrungsstufe: den Umschlag in eine esoterisch aufgeklärte, vertiefte, verwandelte, und schöpferische Lebenspraxis. Ein besonderes Augenmerk legt der Verf. hier auf den Versuch, die esoterisch relevante Frage nach dem Movens der Umkehr im „Inneren des Wirbels“ zu beantworten (134 f.) und damit zugleich das „Kürzel“ für Steiners Denken überhaupt zu entschlüsseln. Die hierzu diskutierten Schlüsselbegriffe sind die der „Leere“ sowie die einer „Beziehung“ schaffenden „Neu-Schöpfung aus dem Nichts“ (130/134 f.).
Dass die Arbeit sich insbesondere von einem methodologischen Wandel im Umgang mit dem Werk und der Person Rudolf Steiners eine neue und konstruktivere Debatte um die Anthroposophie verspricht, darauf verweist auch das dritte Schema, das „hermeneutische Dreieck“ (170). Nach einer kurz angerissenen Diskussion um die performatorische Sprechakttheorie wird, neben Logik und Ästhetik, auch die Performanz als ebenfalls konstitutiv für den anthroposophisch/esoterischen Erkenntnisweg behauptet. Denken überhaupt, und in der Anthroposophie insbesondere, befinde sich „immer im Beziehungsfeld von Richtigkeits- und Wahrheitsfragen [ Logik ], von Fragen des Ausdrucks und der Darstellungsweise [ Ästhetik ] und schließlich von Fragen der Wirksamkeit und gestaltender sowie transformativer Kraft [ Performanz ]“ (170). Letztere, die transformatorische Kraft der Performanz, ließe sich in der Anthroposophie, so der Verf., insbesondere an Steiners Vortragskunst, der Entdeckung der Eurythmie als geistig-sinnlicher Performance, der der Freimaurerei entlehnten „Ritualdynamik“ (182–187) und letztlich auch an der „Choreographie“ (190) seiner Schriften erkennen. Das erkenntnistheoretisch Entscheidende, auch esoterologisch Bedeutsame an diesem performatorischen Konzept ist, dass die darin durchgeführten Handlungen „in ihrem Vollzug spirituelle Bedeutung tragen, welche sich im Verlauf ihres Vollzugs für die Handelnden klären mag. Es sind Wege der Erkenntnis“ (187). Daraus erklärt sich noch einmal im Rückblick die Betonung der „Übungen“ zur „esoterischen Denkform der Umkehr“ (100–137), die – auch das ist womöglich Steiner-spezifisch – nicht als Training und „Akkumulation“ von Kräften zur Erlangung einer spezifischen Perfektion, sondern als Bereitschaft zur Öffnung für unabsehbare, irritierende, Gewohnheiten durchbrechende Erfahrungen (191–193) und damit auch als mögliche Wendepunkte innerhalb eines Wirbels‘ zu verstehen seien.2
Das vierte Schema im dritten Teil, das „heuristische Schema“ zum Erzähler Rudolf Steiner (209), führt die bisher herausgearbeiteten Aspekte der hermeneutischen Analyse in einem interdependenten Bezugssystem und unter dem narratologischen Zentralbegriff „Erzähler“ zusammen. Nach der Dekonstruktion des Dogmas und der Einführung der Hypothese als „sensibler Behauptung“, der Herausarbeitung des experimentellen, performativen Charakters eines sich an den regulativen anthroposophischen Hypothesen orientierenden (spirituellen) Erkenntnisweges lässt sich der Vertreter dieses Konzepts, Steiner, nicht mehr als Guru, allwissender Hellseher und Weisheitslehrer, oder als dogmatische Führerpersönlichkeit verstehen. Die Verbindung zwischen Steiners Selbstbeschreibung dessen, was er mit seiner anthroposophischen, ja auch schon philosophischen Lehre tut, nämlich sie zu erzählen, sowie der Konjunktur des Narrativs, als ubiquitärem kulturphilosophischen Topos der Gegenwart, legt es für den Verf. nah, auch die Anthroposophie unter erzähltheoretischen Kategorien zu analysieren und zu explizieren. „Die Konjunktur der Erzählung kommt heute seinem [Steiners] Werk entgegen“ (203). Das in diesem Kontext entwickelte Schema sowie die Anwendungsbeispiele, Goethes Märchen und die Akasha-Chronik, sind unter methodologischen, diskursiven und wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten der produktivste Teil des Buches, der durch Einbeziehung der Ergebnisse der vorherigen Analysen auch als dessen Summe und zugleich als gut durchdachtes Angebot an eine anspruchsvolle Steiner- und Anthroposophie-Forschung verstanden werden kann. Mit dem „heuristischen Schema“ und seinen sieben aufeinander bezogenen, spezifizierten Kategorien (Genre, Geltung, Referenz, Struktur, Status, Chancen und Situation) legt der Verf. ein konstruktives erzähltheoretisches Konzept vor, das dazu auffordert, eine integrative, gleichwohl multiperspektivisch ausgerichtete Analyse und Beurteilung von Steiners Werk zu einem hermeneutischen Leitfaden zu machen, der unter Berücksichtigung der sieben Parameter der Komplexität seines Forschungs-Gegenstands gerecht zu werden versucht. Diese Leitlinie ist zugleich ein Maßstab, an dem sich Analysen und Beurteilungen von Steiners Werk zukünftig werden messen lassen müssen.
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Neben der methodologisch ausgerichteten Analyse zu Steiner als Erzähler und der Anthroposophie als Erzählung sollen noch drei Probleme und Fragen werkgeschichtlicher bzw. inhaltlicher Art kurz erörtert werden.
Selbstverständlich lässt sich eine werkgeschichtliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes auf die Anthroposophie und auf Steiner als anthroposophischen Lehrer, das heißt, grob gesagt, auf den Zeitraum nach 1900 rechtfertigen. Allerdings, und darauf weist der Verf. ausdrücklich hin, habe der theosophische Steiner den philosophischen nicht einfach abgelöst, denn: „Steiner lässt seine philosophischen Ansprüche keinesfalls hinter sich, sondern weitet sie auf neue Inhalte aus“ (44). Abgesehen von einer sachlich nicht ganz stimmigen Herleitung des kritischen Denkens aus der Tradition der Ich-Philosophie des deutschen Idealismus (47 f.) bleibt die philosophisch-literarische Vorgeschichte Steiners und deren nachhaltige Prägung seines anthroposophischen Denkens, trotz der o. g. Beteuerung, unberücksichtigt. Auf diese Weise werden nicht nur Steiners Vorurteile gegenüber einem rationalistisch auf „abstrakt-begriffliche Denkform“ verkürzten Idealismus weitergetragen (121), sondern auch schwer haltbare Thesen im Hinblick auf den vermeintlich fehlenden Übergang von der Philosophie zur Lebenswelt in der nachantiken Philosophie aufgestellt (256). Denn es ist doch gerade die Philosophie und Lebenswelt vermittelnde Weisheitsphilosophie des Gelehrten-Ideals Fichtes, dem nachzueifern sich Steiner schon früh vorgenommen hatte (GA 28, 52), die diesem Anspruch in besonderer Weise entspricht. Steiner musste daher keineswegs zu antiken Vorbildern zurück, um die Einheit von „Philosophie und Lebensführung“ für sich entdecken und an sie anschließen zu können (257). Abgesehen von diesem eher philosophiehistorischen Aussetzer bleibt mit der Ausblendung des „philosophischen Steiner“ das gesamte Arsenal des literarischen und philosophischen Idealismus an genetisch-prozessualem (neudeutsch: performativem) und ganzheitlichem, das heißt Intellekt, Wille und Gefühl, Theorie und moralische, politische, pädagogische und kulturelle Praxis integrierenden wissenschaftlichen wie populären Philosophierens (Kant/Hegel/Fichte) sowie das Feld des mythologischen Denkens (Schelling), auf dem Steiners Denken ja aufsetzt, unausgeschöpft. Nebenbei bemerkt: Schon Lessing und Gellert, ebenso Schocher haben sich über die rhythmische und choreographische Beziehung von Literatur und Tanz auseinandergesetzt und schon Fichte nannte die genetische Produktion und Darstellung des Ich-konstituierenden Setzungsakts der Tathandlung – also etwas, wovon man ausgehen kann, dass Steiner das kannte – eine „Erzählung“ (Fichte, GA I/2, 261).
Die Anschlussmöglichkeiten Steiners an gegenwärtige sprach- oder kulturphilosophische Diskurse ist, wie die Arbeit überzeugend zeigt, zweifellos ein interessantes und fruchtbares Unternehmen. Die Frage, was diese Anschlussmöglichkeiten, Adaptionen und Konvergenzen im Denken Steiners als deren Voraussetzungen möglich macht, ist allerdings nicht weniger bedeutsam. Denn ohne die angemessene Erörterung dieser Frage, über die Steiners Biographie durchaus Auskünfte bereithält, erscheint die Anthroposophie – auch gegen das Urteil ihres Gründers und autoritativen Interpreten – merkwürdig monolithisch-geschichtslos und bleibt Steiners Postulat aus dem Jahre 1918: Im Lebensganzen muß Philosophie walten‘ (SKA 4/1, 31), nahezu unverständlich.
Zu einer inhaltlich zentralen Stelle des Buches, Steiners Notizblatt zum „Denkbild des Wirbels“ (133 f.), die der Verf. zu Recht als „Kürzel für das Denken Rudolf Steiners“ überhaupt vermutet und auslegt, seien zwei Hinweise angemerkt. Der Verf. schließt eine theologisch/biblische Deutung der Umkehrbewegung, die auch auf die Wendung im Inneren des „Wirbels“ zu beziehen ist, aus (125). Das ist angesichts der fundamentalen geistesgeschichtlichen Bedeutung des Topos der Umkehr in Philosophie und Theologie schon fraglich genug. Nun aber spricht Steiners „Notizblatt“ selbst ausdrücklich von einem Ausgang der „Entwickelung des Menschengeistes“ aus Gott und einer durch die „Verwirbelte Drehung“ initiierten Wiedereinkehr ins Göttliche als dessen Ebenbild (133). Die theologische Dimension ist hier zweifellos gegeben. Und sie knüpft damit an die Thematik an, die schon die „letzten Fragen“ im dritten Teil der Philosophie der Freiheit behandelt haben (PF, 255−264). Inwiefern diese theologische Dimension als heuristisches Regulativ auch für die anderen Umkehrübungen gilt und ob Steiners Denken durchgängig, zumindest latent, von dieser metanoietischen Dimension’ geprägt ist, wäre näher zu untersuchen.
Der zweite Hinweis betrifft die Qualifizierung des „Inneren“ des Wirbels, das der Verf. als „Leere“ respektive „Nichts“ (94–97), als beziehungstiftende „Schöpfung aus dem Nichts“ (133–137) verstanden wissen will. Gegen diese Deutungen spricht ebenfalls Steiners „Notizblatt“ (133) selbst, indem es das Innere des Wirbels als „Magie“ bestimmt. „Alles was im Sinne der Wirbelbewegung vollbracht ist, ist Magie“ (133). Abgesehen davon, dass sich über die Magie ein interessanter geistes- und forschungsgeschichtlicher Sachzusammenhang mit dem im folgenden Kapitel diskutierten „magischen Idealismus“ hätte herstellen lassen, unterlaufen die Termini Leere und Schöpfung aus dem Nichts, so will mir scheinen, sowohl die methodologische als auch die inhaltliche Zielsetzung des Verf. Zunächst im Hinblick auf das engagierte, handlungsorientierte, experimentelle und übende Vorgehen im Aufstieg zur intuitiven Erkenntnis, die keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern das Ergebnis intensiv übender spiritueller (Vor-)Arbeit ist. Und auch das inhaltliche, das substanzielle Ziel dieses Weges lässt sich nur schwer als Leere und Schöpfung aus dem Nichts verstehen (ex nihilo nihil fit). Denn, wie der Verf. Steiner zutreffend zitiert, findet im Vollzug intuitiver Erkenntnis möglicherweise die unmittelbare Gegenüberstellung „mit dem Wesentlichen der übersinnlichen Welt“ (94) statt. Das „Wesentliche der übersinnlichen Welt“ sind aber, schon nach der Philosophie der Freiheit, weder Leere noch Nichts, sondern Ideen, also lebendige, substanzielle spirituelle Entitäten.
Schließlich noch eine Bemerkung zur Konzeption, Steiner und die Anthroposophie hermeneutisch durchgängig und dominant unter den Topoi Erzähler‘ und Erzählung‘ anzubieten. An dem durchaus konstruktiven Vorschlag zu einer stärker dialogorientierten und auch differenzierteren Herangehensweise an Steiners Werk sollte allerdings zweierlei auseinandergehalten und in dieser Differenz auch unterschiedlich gewichtet werden. Als eine Deutung Steiners, die plausibel aus dessen Werk begründet werden kann, ist das Erzähler-Motiv zweifellos sehr vielversprechend. Und die Steiner-Forschung kann davon, so, wie es der Verfasser hier vorgestellt hat, nur profitieren. Der im Ausgang von der Erzähldeutung begründete und starkgemachte Appell an die Forschung ist aber – weil ebenso werkimmanent begründbar – von anderen Teilsegmenten des Steiner‘schen Selbstverständnisses zu unterscheiden, in denen Steiner aus anderem Rollenverständnis heraus die Grenze des Erzählerischen zum autoritativ Setzenden und auch zum polemisch Abweisenden erkennbar überschreitet. „Schopenhauer, das bornierte Genie“ (GA 28, 78/232), wäre eines von vielen Beispielen in dieser Richtung. Selbstredend können auch Steiners weniger erzählende als vielmehr polemisch urteilende, aber auch zeitweise überhöhend wertschätzende oder autoritativ setzende Rollen im „heuristischen Schema“ des Verf. unter dem Stichwort Status des Erzählers im Narrativ des philosophisch-begrifflichen oder ästhetischen Genre dialogorientiert abgehandelt werden und das sollten sie auch. Nur tritt Steiner darin der Sache nach, das heißt gemäß den schematischen Kategorien Referenzbezug und Status, nicht als Erzähler, sondern eher als „solitärer Bescheidwisser“ in „hohepriesterlicher Gebärde“ (178), als Bewunderer oder Kämpfer auf, letzteres etwa so, wie er sich zeitweilig beispielsweise auf Nietzsche oder Haeckel bezogen hat. Die starke Fokussierung auf den Erzähler kann von der Sache oder den Quellen her diese anderen Haltungen nicht vollständig ersetzen oder neutralisieren. Das sollte sie auch nicht wollen. Etwas anderes ist es, darüber zu diskutieren, in welchem Verhältnis die verschiedenen Anteile von Steiners Performance im Hinblick auf die jeweils erörterten Themen und Kontexte stehen, und von daher sollten sie auch interpretiert und gewichtet werden. Genau dafür ist das Erzählschema des Verf., wegen seines differenzierten, multiperspektivischen Zugangs zum anthroposophischen Werk und zu dessen Autor und Darsteller, ein höchst empfehlenswertes Instrument.