1. Anthroposophie und akademische Wissenschaft – Eine einleitende Vorbemerkung zur Tagung

Mit dem gegenwärtigen Verhältnis zwischen der Anthroposophie und den akademischen Wissenschaften, insofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann, steht es nicht zum Besten. Von Ausnahmen abgesehen, ist es wechselseitig durch Ignoranz, Skepsis oder Ablehnung gekennzeichnet. Dem Ansatz der Steiner Studies, das facettenreiche Werk Rudolf Steiners mit den Mitteln heute geläufiger akademischer Standards zu diskutieren und damit Anthroposophie und akademische Wissenschaft einander anzunähern, liegt ein Motiv zugrunde, das schon beim Gründer der Anthroposophie selbst explizit zum Ausdruck kommt.

Auf Einladung des Züricher Zweigs der Anthroposophischen Gesellschaft hielt Rudolf Steiner im November 1917 vier Vorträge unter dem Titel Anthroposophie und akademische Wissenschaft. Initiatoren der Einladung Steiners nach Zürich waren junge Akademiker. Im Vorwort und Klappentext zu den 1950 erschienenen Vorträgen schreiben Verlag und Herausgeber, Roman Boos, ein langjähriger und enger Mitarbeiter Steiners: „Diese Vorträge sind […] so gehalten, daß sie das eigentliche Anliegen der Anthroposophie […] an Kernprobleme der wissenschaftlichen Problematik unserer Zeit heranführen.“1 Diese Auseinandersetzung wird von Steiner nicht geführt, um „einer ausserhalb des Bereiches der akademischen Wissenschaft entwickelten ‚Geisteswissenschaft‘ eine weltfremde Existenz zu wahren. Mit äußerstem Nachdruck macht er vielmehr den Anspruch der anthroposophischen Geisteswissenschaft geltend, […] im Bereich der Problemstellungen und Problemlösungen der akademischen Wissenschaften selbst als entscheidender Beitrag gewertet zu werden“.2 Wer diesen Anspruch vertritt, kann sich dem Diskurs mit den Wissenschaften nicht entziehen, zu deren Problemstellungen und Problemlösungen er glaubt, einen entscheidenden Beitrag liefern zu können.

2. Tagungsbericht

Organisiert von Helmut Zander fand am 18. und 19. Oktober 2019 in der Universität Fribourg (Schweiz) ein Forschungsatelier zu exemplarischen Projekten der gegenwärtigen akademischen Steiner-Forschung statt. Neben der Bestandsaufnahme zu ihrer Lage und dem Aufriss anstehender Forschungsfelder durch den Gastgeber referierten die Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin Ann-Kathrin Hoffmann (Flensburg), der Religionswissenschaftler Dr. Ionuţ Daniel Băncilă (Erfurt), die Kulturanthropologin Stephanie Majerus (Fribourg), der Philosoph Prof. Dr. Hartmut Traub (Alfter) sowie der Religionsphilosoph und Soziologe Ansgar Martins (Frankfurt am Main). Der Vortrag von Karen Swartz Larsson (Finnland) Corporate Storytelling in the Anthroposophical Society: narratives of decline, change, and renewal wurde krankheitsbedingt abgesagt. Im Anschluss an die Vorträge fand jeweils ein längerer Austausch der Teilnehmer/innen über die vorgestellten Projekte statt.

In seinem Einführungsvortrag machte Helmut Zander mit der Unterscheidung zwischen der Fülle an anthroposophischer Literatur einerseits und der als eher dürftig zu bewertenden akademisch-wissenschaftlichen Forschungssituation zu Rudolf Steiner andererseits deutlich, worin die Herausforderung für die gegenwärtige wie zukünftige Steiner-Forschung besteht. Eine sich als wissenschaftlich verstehende Forschung zum Werk Rudolf Steiners könne nur dann – auch außerhalb der anthroposophischen Community – erfolgreich sein, wenn sie sich an den Standards wissenschaftlicher Forschung orientiere. Als besondere Schwierigkeit auf diesem Weg erweise sich dabei, so Zander, die Vielfalt der Anwendungsfelder der Anthroposophie, die, um wissenschaftlich angemessen erforscht zu werden, die Expertise der jeweiligen Fachwissenschaften erfordert. Auf der Grundlage der Bestandsaufnahme zur Forschungssituation skizzierte Zander zehn Perspektiven für die gegenwärtige und zukünftige Steiner-Forschung, die sich systematisch fünf Themenfeldern zuordnen lassen.

Das erste Themen- und Forschungsfeld betrifft die Organisation und Entwicklung der ‚anthroposophischen Bewegung‘ und die der Anthroposophischen Gesellschaft insbesondere nach 1925; dabei läge hier der Fokus auf deren bestandsichernden Organisations- und Sozialstrukturen sowie auf dem Verhältnis von Kohärenz und Pluralität in der Deutung und Anwendung des steinerschen Denkens. Als zweiten Forschungsgegenstand erörterte Zander das auf vielen gesellschaftlichen Feldern wirkmächtig gewordene Innovationspotenzial der Anthroposophie – von der Waldorfpädagogik, der integrativen Medizin, dem Demeter-Landbau, dem Banken- und Kreditwesen usw. Ein drittes, größeres Untersuchungsfeld – Kontext und Entwicklung – markiere das Desiderat der Erforschung historischer, sozialer und ideengeschichtlicher Einflüsse auf die Anthroposophie und deren Reflexion durch die Anthroposophie in den Zeiträumen ihrer Entstehung und insbesondere während der NS-Zeit. Als eine im engeren Sinne der Anthroposophie immanente Forschungsperspektive wies Zander – viertens – Fragen nach dem weltanschaulichen Selbstverständnis der Anthroposophie im Verhältnis zur Religion sowie mit Blick auf ihr wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis aus. In diesem Zusammenhang seien insbesondere die Transformationen (Re-Interpretationen) im Denken Steiners (von den philosophischen Frühschriften zur Theosophie und Anthroposophie) sowie, und damit womöglich zusammenhängend, biographische Aspekte noch eingehender zu erforschen. Einem fünften Forschungsfeld lassen sich nach Zander Fragen und Phänomene zuordnen, die sich aus dem Prozess der zunehmenden Globalisierung für die Anthroposophie in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kulturen und deren spirituellen und weltanschaulichen Orientierungen ergeben. Welche Adaptions- oder Wandlungsprozesse im Verständnis und der Deutung der Anthroposophie finden bereits statt oder sind hier zu erwarten?

Innerhalb dieser Forschungsperspektiven sei, so auch das Resümee der anschließenden Diskussionsrunde, interdisziplinäre Forschungsarbeit und fachwissenschaftliche Expertise erforderlich.

Im Sinne der Frage nach der Anschlussfähigkeit anthroposophischer Forschungs- und Praxisfelder zu akademisch-wissenschaftlicher Forschung referierte Ann-Kathrin Hoffmann zum Thema Antiintellektualität in der Anthroposophie und ihre Anschlussfähigkeit. Intellektualität, so Hoffmann, erscheine in der Anthroposophie Rudolf Steiners (von der kosmologischen über die pädagogisch-anthropologische bis zur didaktischen Ebene) als ein notwendiges, zugleich aber negatives Prinzip. Dabei erweise sich die Intellektualitätskritik als eine zentrale Perspektive, von der aus die Anziehungskraft der Anthroposophie beleuchtet werden kann; und zwar vor allem im Hinblick darauf, wie sie gesellschaftliche Verhältnisse und spirituelle Bedürfnisse reflektiere und welche Antworten sie von hier aus insbesondere auf dem Feld der Pädagogik gebe. Im Fokus von Hoffmanns Betrachtung standen konzeptionelle wie begriffliche Anknüpfungspunkte der Waldorfpädagogik an gegenwärtige Theorien und Philosophien, wie sie sich u.a. in der Entwicklungspsychologie, der Naturpädagogik und der Phänomenologie finden lassen. Als vorläufiges Ergebnis ihrer Analyse zeigte Hoffmann auf, dass auf den Feldern gegenwärtiger Entwicklungspsychologie, der Natur- und Kunstpädagogik gleichermaßen intellektualismuskritische Konzepte vertreten werden, die eine hohe Kongruenz mit waldorfpädagogischen Ansätzen ganzheitlichen, handlungs- und erlebnisorientierten Lernens aufweisen. Über diese Kongruenzen ließe sich durchaus ein kritischer und anschlussfähiger Dialog zwischen Waldorfpädagogik und allgemeiner Pädagogik führen.

In der folgenden Diskussion wurde insbesondere die Frage erörtert, inwieweit eine Begründung von Steiners pädagogischen Ideen auf seine geisteswissenschaftliche Kosmologie und esoterische Kulturgeschichte Rücksicht nehmen muss. Oder ob es nicht ausreiche, wie in der allgemeinen Pädagogik und Erziehungswissenschaft üblich, für eine theoretische Begründung, sich auch bei Steiner auf didaktische Prinzipien zu beschränken, wie etwa Individualisierungsprozesse (anthropogene und sozialkulturelle Bedingungen), das Prinzip des ganzheitlichen, erlebnis- und handlungsorientierten Lernens sowie die Förderung der Wahrnehmungs- und Phantasiefähigkeit. Auch wenn diese pädagogischen Parameter bei Steiner eng mit seinen esoterischen Theorien zusammenhingen, so sei doch umstritten, ob sie für einen allgemeinen pädagogisch-didaktische Diskurs unabdingbar sind. Denn auch pädagogische und erziehungswissenschaftliche Theorien greifen zu ihrer Begründung nur bedingt auf die ihnen zugrundeliegenden Welt- und Menschenbilder zurück.

In seinem Beitrag Von der Anthroposophie-Rezeption in Osteuropa: Dorfanthroposophie in der Zwischenkriegszeit in Rumänien (1929–1930) vermittelte Ionuţ Daniel Băncilă einen interessanten Einblick in die Wirkungsgeschichte der Anthroposophie. Im Hinblick auf die zehn von Zander entfalteten Forschungsperspektiven behandelte Băncilăs Vortrag exemplarisch die Stichpunkte ‚Entwicklung‘ und ‚Innovationskraft‘ der anthroposophischen Bewegung, hier: den starken Einfluss von Steiners Landwirtschaftskurs aus dem Jahre 1924 auf die Bauern im rumänischen Banat. Der Bauer Ioan Ciucurel (1897–1955), so führte Băncilă aus, habe ein nachweisbares Interesse an der Lehre Rudolf Steiners gehabt. Über die von Ciucurel gegründete Bauernzeitung (Cuvântul satelor [Das Wort der Dörfer]) sei es gelungen, ein Netzwerk rumänischer Anthroposophen zu knüpfen, die in der Region des Banats regelmäßig Konferenzen und Fortbildungen nicht nur zur praktischen Nutzbarkeit und Anwendbarkeit anthroposophisch-landwirtschaftlicher Methoden abhielten. Die Fortbildungen und Artikel bezogen sich ebenso auf allgemeine weltanschauliche Themen, tendenziell als Polemik gegen eine materialistische Weltanschauung sowie gegen die orthodoxe Kirche und gegen konkurrierende ‚okkultistische‘ Praktiken, etwa den Spiritismus. Mit dem Wissenschaftsanspruch der Anthroposophie hätten Ciucurel und seine Mitstreiter überdies die These vertreten, dass Anthroposophie in der Lage sei, nicht nur Fragen aus dem Bereich der Religion, sondern auch des Alltagslebens (z.B. im Bereich der Landwirtschaft) der Bauern zu beantworten. Dabei habe insbesondere die Anknüpfung an traditionelle Formen der Landwirtschaft, die durch die beginnende Industrialisierung (Kunstdünger etc.) verloren zu gehen drohten, eine besondere Rolle für die Attraktivität von Steiners Lehren gespielt, was der Anthroposophie und Ciucurels Bewegung gerade auch bei der weniger oder ungebildeteren Bevölkerung starken Zuspruch eingebracht habe. Unterstützt worden sei dies durch die von Ciucurel etablierte demokratische Struktur seiner Organisation.

Die anschließende Diskussion thematisierte insbesondere die Bereitschaft der Banat-Rumänen, sich über die Anthroposophie fortbilden zu lassen, sowie die Frage nach den Ursachen für den Untergang dieser Bewegung durch die sowjetisch dominierte intensive Landwirtschaft in den Ländern des Ostblocks.

Das Referat von Stephanie Majerus Die Biodynamik und ihre Werkzeuge, Weltbezüge herzustellen erwies sich als ideale Ergänzung und Fortführung des Beitrages von Băncilă. Majerus stellte darin die Ergebnisse ihrer im deutschsprachigen Raum durchgeführten ethnographischen Feldstudie zur Einstellung von Demeter-Bauern zur anthroposophischen Theorie des biodynamischen Landbaus vor. Die Antworten der Demeter-Bauern auf die Frage nach der Bedeutung des anthroposophischen ‚Überbaus‘ für ihre Praxis seien vielschichtig. Sie beträfen einerseits, so Majerus, die weltanschauliche Verankerung des beruflichen Selbstverständnisses der Landwirte in dem, was Steiner in seinen Kursen zur Landwirtschaft 1924 grundgelegt hat (die anthroposophische Kosmologie/Zoologie/Pflanzenkunde sowie die Theorie der ‚Bildekräfte‘). Wobei in diesem weltanschaulichen Zusammenhang bei einem Teil der Befragten offenbar ein Interesse an Fortbildungen auf dem Gebiet der Anthroposophie festzustellen sei. Andererseits beträfen die Antworten die lebensweltliche Veränderung des Verhältnisses der Befragten zu Tieren, Land und Pflanzen in Richtung auf die Wahrnehmung des Hofs als ‚Organismus‘. Schließlich berührten ihre Antworten darüber hinaus die ‚praxisorientierte Evaluation‘ der theoretisch-praktischen Einstellungen der Befragten durch positive ökologische und atmosphärische ‚Resonanzen‘ ihrer nach biodynamischen Demeter-Richtlinien bewirtschafteten Höfe.

Im Einzelnen verändere, so Teilnehmer der Befragung, die Beschäftigung mit dem Bildekräftemodell ihre Beziehungen zu Tieren und Pflanzen dahingehend, dass es ihnen dazu verhelfe, die Verbundenheit aller Lebewesen zu erkennen und zu verstehen. Wodurch sich nicht nur das Verhältnis Mensch – Tier (Wahrnehmung der Tiere als Individuen mit Gefühlen und spezifischen Charakteren, als astralische Lebewesen), sondern auch das Verhältnis der Tiere untereinander positiv beeinflussen lasse. Dies betreffe auch die Wahrnehmung der Befragten im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen der Verwendung anthroposophischer ‚Präparate‘ und deren Wirksamkeit im biodynamischen Landbau. Grundsätzlich sei allerdings festzustellen, dass die Orientierung bzw. das Interesse der Befragten an der Anthroposophie weniger ein theoretisches, sondern vielmehr ein praktisches sei. Es gehe weniger um das (theoretische) Verständnis der Grundlagen des anthroposophischen Landbaus als vielmehr um deren Relevanz im Alltagsgeschäft der landwirtschaftlichen Arbeit.

Im Hinblick auf die Frage nach der ‚Anschlussfähigkeit‘ des anthroposophischen Modells biodynamischer Land- und Viehwirtschaft wies Majerus auf die gegenwärtig in der Kultursoziologie und Kulturanthropologie diskutierten Ansätze der ‚Resonanztheorie‘ von Hartmut Rosa und Charles Taylors Modell des ‚bufferd und porous I‘ hin.3 Beide Ansätze kritisierten, wie Steiner auch, den reduktionistischen, im Wesentlichen materialistisch-gewinnorientierten Umgang des neuzeitlichen Menschen mit der Natur und plädierten auf eine Öffnung des Menschen für ein ökologisch nachhaltigeres, auch spirituelleres Verhältnis zu Um- und Mitwelt.

Die nachfolgende Diskussion erörterte zum einen die Frage nach dem Unterschied zwischen dem im vorherigen Vortrag dargestellten theorieorientierten und auch politisierenden Einfluss der Anthroposophie auf die rumänischen Bauern in den 1920er Jahren und dem eher pragmatischen Verhältnis der Demeter-Land- und Viehwirte in der Gegenwart. Zum anderen wurden philosophie- und ideengeschichtliche Verbindungen zwischen dem Panpsychismus – etwa bei Aristoteles – und Steiners Lehre vom Zusammenhang der Pflanzen-, Tier- und Menschenseele im Rahmen seiner anthroposophischen Seelenkunde beleuchtet. Als Drittes wurde – wenn auch nur kurz – die mögliche Kompatibilität der anthroposophischen Konzeption des biodynamischen Landbaus mit den aktuellen Modellen der Resonanztheorie und Taylors Kritik am ‚säkularen Zeitalter‘ diskutiert.

Der Beitrag des Verfassers dieses Berichts Zur methodologischen und wissenschaftstheoretischen Einordnung des Denkens Rudolf Steiners thematisierte die Schwierigkeit, Steiners Werk als Ganzes mit eindeutigen Kategorien wissenschaftlicher Analyse zu erfassen. Unter Rückgriff auf die wissenschaftstheoretische Diskussion der 1970er Jahre und der Verwendung des Modells der ‚Counter-Dependenz‘ erörterte der Referent die Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen, hermeneutischen und emanzipatorischen Erkenntnismodellen und interessen mit dem Fazit, dass gegenüber einseitigen wissenschaftstheoretischen Festlegungen stets ideologiekritische Vorbehalte – im Sinne von Paul Feyerabends Wider den Methodenzwang4 – angebracht seien. Und dies gelte auch für Steiners Werk und hier sowohl für anthroposophische Vorbehalte gegenüber akademischer Wissenschaftlichkeit einerseits als auch gegenüber esoterikrepugnantem Wissenschaftspositivismus andererseits. Die zwischen beiden Richtungen gepflegte Kultur der Counter-Dependenz diene weniger dem gegenseitigen Verständnis als vielmehr der Aufrechterhaltung einer unproduktiven, wenig selbstkritischen Negativdialektik.

Für eine erste wissenschaftstheoretische Einordnung von Steiners Arbeiten schlug der Referent drei Ankerpunkte vor: 1. Steiners Kernanliegen sollte im Kontext des soteriologischen Paradigmas der europäischen Kultur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte verorten werden. Von Platons Höhlengleichnis, dem jüdisch-christlichen Messianismus, dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“,5 dem therapeutischen Ansatz von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen bis hin zu den Heilsversprechen der europäischen Wissenschafts- und Technikgeschichte kennzeichne die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte ein soteriologisches Grundmotiv. Das gelte grundsätzlich auch für Steiner. 2. Die Komplexität seiner Schriften betreffend sei eine dreifache methodologische und erkenntnistheoretische Unterscheidung ratsam. Zu unterscheiden sei erstens: die heuristisch-hermeneutische Ebene, auf der Steiner ‚geisteswissenschaftliche‘ Sachverhalte in metaphorisch-symbolischer Bildersprache thematisiert, wie etwa in der Geheimwissenschaft im Umriss. Zweitens: Die methodologisch-theoretische Ebene der ‚therapeutischen‘ Schriften. Hier geht es vor allem um Steiners esoterische Trainings- und Anweisungsliteratur, wie etwa Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Drittens: Die wissenschaftlich-argumentative Ebene, auf der sich Steiner mit Sachfragen der Philosophie-, Geistes- und Kulturgeschichte auseinandersetzt. Hierzu gehören weite Teile der philosophischen Schriften. Der Vorteil einer solchen erkenntnistheoretischen und methodologischen Unterscheidung bestehe darin, so der Referent, die einzelnen Gebiete des steinerschen Denkens sachangemessen erörtern und beurteilen zu können und sie nicht mit wissenschaftlichen Ansprüchen zu überfordern, die außerhalb ihres eigenen Anspruchs liegen. 3. sprach sich der Referent für eine ‚Entmythologisierung‘ der Symbolsprache Steiners aus. So sei bspw. der esoterisch aufgeladenen Terminus des ‚Hellsehens‘ nicht unbedingt durch die Annahme eines höheren geistigen Sinnesorgans, sondern durch die Wiederherstellung der Funktionalität einer Wahrnehmung zu erklären, die in der Lage sei, auf relevante Sach- und Sinnzusammenhänge aufmerksam zu machen, die unter der Dominanz des Empirismus aus dem Blick geraten seien. ‚Entmythologisiert‘ bedeute ‚Hellsehen‘ demnach das Vermögen sachadäquater Multiperspektivität. Als weiteres Beispiel der Entmythologisierung eines anthroposophischen Theorems wird vorgeschlagen, die Karma-Theorie weniger als Geschichte einer Reihe individueller Wiedergeburten zu interpretieren, sondern deren alternatives Erklärungspotential als verantwortungsethisches Modell vorbewusster Verhaltensdispositionen gegenüber biologistisch-genetischen oder soziologisch-milieutheoretischen Identitätstheorien auszuloten.

Mit einem Aktualitätsbezug zur Counter-Dependenz zwischen biodynamischer und konventioneller Land- und Viehwirtschaft verdeutlichte der Referent abschließend, dass in der kontroversen Diskussion um die wissenschaftlichen und weltanschaulichen Positionen der Anthroposophie politische und ökonomische Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Das Gespräch zum Beitrag stellte die Zuordnung Steiners im Kontext der europäischen Geistesgeschichte als zu unspezifisch infrage, wobei der dabei verwendete Terminus ‚abendländisch‘ selbst ideologisch konnotiert sei. Kontrovers wurde auch die Annahme einer heuristisch-symbolischen Deutung anthroposophischer Theoreme diskutiert, die bei Steiner womöglich eher ontologische Bedeutung hätten. So sei insbesondere fraglich, ob sich das Vermögen des Hellsehens auf ein Modell der Multiperspektivität reduzieren lasse bzw. ob Steiner nicht vielmehr versuche, Mythen wissenschaftlich zu erklären. Das Theorem der ‚Counter-Dependenz‘ könnte sich dagegen als probates Instrument für die Analyse der wissenschaftstheoretischen Kontroverse zwischen akademischer und anthroposophischer Steiner-Deutung erweisen.

Im Vortrag Probleme der Anthroposophie nach 1925 am Beispiel Roman Boos lieferte Ansgar Martins einen Beitrag zum Forschungsfeld Organisation und Entwicklung der ‚anthroposophischen Bewegung‘ und der anthroposophischen Gesellschaft insbesondere nach 1925 und dies im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Kohärenz und Pluralität in der Deutung und Anwendung des steinerschen Denkens. Unter der provokanten Schlüsselfrage „Was wollte Steiner wirklich?“ skizzierte der Referent zunächst drei Generationen bzw. Perioden unterschiedlicher Steiner-Deutungen nach dessen Tod 1925 bis in die Gegenwart. Was sich vordergründig schon am Wandel der Ansprache Steiners als ‚Doktor Steiner‘ in der ersten, als ‚Rudolf Steiner‘ in der zweiten und als ‚Steiner‘ in der dritten Generation anzeige, ließe sich inhaltlich den Titeln Steiners als kosmologisch gedeuteter ‚Menschheitsführer‘, Steiner als ‚Sozialreformer‘ (Stichwort ‚grüne Anthroposophie‘) und schließlich ‚der philosophische Steiner‘ zuordnen. Als vierte Periode spielten, so Martins, die ‚Internet-Anthroposphen‘ eine zunehmend bedeutsame Rolle für die Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft, weil hier die ‚Ausgeschlossenen‘ aller Fraktionen sich zu Wort melden bzw. organisieren könnten.

An der Person und dem Einfluss von Roman Boos (1889–1952), dem Sozialwissenschaftler, Juristen, langjährigen Mitarbeiter und Sekretär Rudolf Steiners, entwickelte Martins exemplarisch das Problem der Pluralität in der Deutung des Werks Rudolf Steiners. Hatten sich mit dem Ende von Steiners politischem Engagement unter dem Stichwort ‚Dreigliederung‘ im Nachgang des Ersten Weltkriegs viele Anthroposophen als unpolitisch verstanden, veränderte sich dies spätestens ab 1933. Mit der ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten, so Martins, seien auch die Anthroposophen wieder verstärkt zur politischen Positionierung genötigt gewesen. Diese Ausrichtung aufs Politische sei zugleich im Kontext der Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft zu verstehen, die nach Steiners Tod ausgebrochen waren und in den 1930er Jahren eskalierten. In diesem gesellschaftsinternen wie externen politischen Spannungsfeld spielte Roman Boos eine entscheidende Rolle. Als Vertrauter von Marie Steiner war sein Einfluss auf die Anthroposophische Gesellschaft nicht alleine maßgeblich in der Auseinandersetzung zwischen Ita Wegman und Marie Steiner um die legitime Nachfolge Steiners oder beispielsweise im Kontext des Ausschlusses von Valentin Tomberg aus der Gesellschaft. Bedeutender als diese internen Einflüsse sei der Einfluss von Boos auf die politische Neuausrichtung der Anthroposophie gemäß der von ihm präferierten politischen Lesart Steiners. Boos’ politische Einstellung war durchaus NS-affin, was sein 1934 verfasstes Buch Neugeburt des deutschen Rechts belege. Geltende Rechtsauffassungen etwa des Corpus juris galten ihm als undeutsch. Mit Boos, so Martins, bestand bis zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft 1935 eine – auch über persönliche Kontakte wie Hanns Rascher und Hans Frank (Hitlers Anwalt und später bekannt als ‚Judenschlächter von Krakau‘) gestützte – einflussreiche Vermittlungsinstanz zwischen der völkischen Ideologie des Nationalsozialismus und solchen Anthroposophen, die sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren suchten. Mit dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft setzte dann eine Auswanderungswelle unter deutschen Anthroposophen ein, die für die Anthroposophie zugleich einen Globalisierungsschub bedeutete. Neben der politischen Schwerpunktsetzung der dreißiger Jahre unter dem Einfluss von Roman Boos hätten sich, so Martins weitere Ausführungen, vor allem die ‚anthroposophischen Praxisfelder‘ und insbesondere auch die ‚Christengemeinschaft‘ als Flügel der anthroposophischen Bewegung mit eigenständigen Interpretationsschwerpunkten zu Steiners Werk weiterentwickelt und etabliert.

Als Quintessenz seines Vortags problematisierte Martins, ausgehend vom Beispiel Boos, einerseits die Kontingenz zeitgenössischer inhaltlicher Schwerpunktsetzungen der Steiner- und Anthroposophie-Forschung und wies damit anderseits zugleich auf das auch aktuell relevante Problem reduktionistischer Steiner-Exegese hin.

Im Zentrum der nachfolgenden Diskussion standen vor allem zwei Fragen. Zum einen, ob, und wenn ja, in welchem Sinne die von Martins dargestellte drei- bzw. vierstufige Periodisierung der Steiner-Rezeption nach 1925 zur Erschließung, Differenzierung und Deutung von Steiners Arbeit hilfreich sein könnte. Als ein Zugang zu dieser Frage bot sich die schon am Beitrag von Majerus erörterte Spannung zwischen Pragmatismus und anthroposophischer Lehre bei den von ihr befragten Demeter-Landwirten an. Die zweite Frage kreiste um die Beurteilung der Auswirkungen der ‚Internet-Anthroposophie‘ auf die Debattenkultur zum Werk Rudolf Steiners und das Selbstverständnis der Anthroposophischen Gesellschaft.

Den Schluss der Veranstaltung bildete eine ausführliche Evaluation der Tagung, die allgemein als produktiver und ertragreicher Auftakt für einen akademischen Diskurs über bedeutsame Schwerpunkte der Anthroposophie und Steiners Philosophie beurteilt wurde, was die Frage nach möglichen Folgeprojekten aufwarf. Auf der Grundlage der Tagung ist für 2020 ein die Beiträge versammelndes Publikationsprojekt vorgesehen.